Gesundheit: nicht genetisch determiniert

Der dritte Film „Zeitgeist: Moving Forward“ analysiert die kranke Gesellschaft der Marktwirtschaft. Der erste Teil des Films zeigt: Es gibt praktisch keine genetisch bedingten Krankheiten. Eine Empfehlung.

von Andreas Exner

Die genetische Konstitution spielt eine Rolle für das Auftreten von Krankheiten, determiniert dies aber nicht. Das ist die Hauptbotschaft im ersten Teil des Films „Zeitgeist: Moving Forward“.

„Prädisposition ist nicht das Gleiche wie Vorherbestimmung“

stellt der Mediziner Gabor Maté im Interview fest. So tragen etwa von 100 Frauen mit Brustkrebs nur 7 ein „Brustkrebsgen“. 93 Frauen, die an Brustkrebs erkranken, haben dieses Gen nicht. Auf der anderen Seite erkranken von 100 Frauen mit diesem Gen nicht alle auch an Brustkrebs. Dieser Zusammenhang gilt für alle möglichen anderen Krankheiten, von Schlaganfällen bis zur Drogensucht, erklärt Maté.

„Gene geben uns unterschiedliche Möglichkeiten, auf die Umwelt zu reagieren“

erläutert der renommierte Gesundheitsforscher Richard Wilkinson weiter. So dürften etwa die Erziehung und andere Umwelteinflüsse die Genexpression, das An- und Abschalten bestimmter Genabschnitte, beeinflussen. Ein ebenso erschreckendes wie eindrucksvolles Beispiel für diesen Mechanismus nennt Maté. Eine Studie von Selbstmordopfern in Montreal (Kanada) ergab, dass jene, die im Kindesalter missbraucht worden waren, eine genetische Veränderung im Gehirn aufwiesen, die Menschen ohne Missbrauchserfahrung fehlt.

Der ehemalige Direktor des Center for the Study of Violence an der Harvard Medical School, James Gilligan, berichtet von einer Studie in der neuseeländische Stadt Dunedin. Dort wurden mehrere tausend Menschen von Geburt weg bis in ihre 20er auf ihre Gewaltbereitschaft untersucht. Man entdeckte eine genetische Mutation, die eine gewisse Prädisposition zu Gewalt mit sich brachte – aber nur, wenn diese Menschen zugleich schwerem Kindesmissbrauch ausgesetzt waren. Menschen, die diese genetische Mutation aufwiesen, jedoch keine schweren Missbrauchserfahrungen gemacht hatten, waren nicht gewaltbereiter als andere Personen, die diese Mutation nicht hatten. Sie zeigten sogar eine geringere Gewaltbereitschaft als der Durchschnitt, solange sie keine Missbrauchserfahrungen erlitten hatten.

In Versuchen mit Mäusen entfernte man ein Gen, das ein Protein kodiert, das mit der Fähigkeit zu Lernen und zu Erinnern in Zusammenhang steht. Man schaltete das Gen aus und stellte eine verringerte Fähigkeit zu Lernen fest. Daraus schlossen die Forscher voreilig, es gäbe ein Gen, das die Lernfähigkeit determiniert. Zieht man diese genetisch beeinträchtigten Mäuse jedoch in einer überdurchschnittlich reichhaltigen Umgebung auf, dann überwinden sie ihr Lerndefizit vollkommen. Die Rede von genetische Faktoren des Verhaltens oder von Krankheit sagt also nicht mehr als das:

Es gibt einen genetischen Beitrag dazu, wie dieser Organismus auf seine Umwelt reagiert. Gene mögen die Fähigkeit beeinflussen, mit gewissen Umweltbedingungen umzugehen.

klärt der Biologe Robert Sapolsky.

Der Film geht noch auf viele weitere Beispiele zu diesem Thema ein. So etwa auf vorgeburtliche Einflüsse auf das spätere Verhalten von Menschen. Mütter, die während der Schwangerschaft gestresst werden, gebären Kinder mit einem höheren Risiko an Drogensucht zu erkranken. Kinder, die während der Schwangerschaft Hunger erfahren mussten, haben nach der Geburt einen überdurchschnittlich effizienten Stoffwechsel. Kinder von israelischen Müttern, die vor dem Sechstagekrieg 1967 – einem massiven Stressereignis – schwanger wurden, erkrankten häufiger an Schizophrenie, etc. p.p.

Weiters zeigt der Film, dass es einen sehr engen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und einer ganzen Palette an Indikatoren für den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand sowie der Lebenserwartung in einer Gesellschaft gibt. Die bahnbrechenden Studien von Richard Wilkinson und Kate Pickett werden von Wilkinson selbst im Interview erläutert: Gleichheit macht gesund; Ungleichheit macht krank.

Für Kinder ist es überlebenswichtig, gehalten zu werden, erklärt Gabor Maté. Kleinkinder, die niemand auf den Arm nimmt, sterben. Die Gehirnentwicklung von Babies, die in Brutkästen liegen, wird schon verbessert, wenn man sie nur 10 Minuten täglich berührt und am Rücken streichelt. Es zeigt sich also auch hier die entscheidende Bedeutung der sozialen Umwelt für die Entwicklung des Menschen.

Die Ansicht, es gäbe so etwas wie eine genetische Determinierung ist nicht nur wissenschaftlich falsch, sondern auch politisch gefährlich. Was biologisch determiniert ist, kann man nicht ändern. So rechtfertigt die politische Rechte die Kriminalisierung sozialer Pathologien und die Individualisierung von Krankheit. Menschen, die anderen Gewalt zufügen, muss man demnach einsperren – damit sei das Problem gelöst. Menschen, die krank werden, sind selber schuld oder haben eben „schlechte Gene“. Sie müssen demnach mehr für ihre Versicherung zahlen oder ganz einfach ihr Schicksal akzeptieren. So pusht etwa die ÖVP bei ihrem Forum Alpbach die Position einer „individualisierten Medizin„, die stark auf eine angebliche „genetische Determinierung“ abstellt. Diese Debatte ist also in höchstem Maße aktuell und wird inzwischen nicht nur in den USA, sondern von der Rechten auch in Europa, wie es scheint, vermehrt forciert. Dagegen bietet der Film gute wissenschaftliche Argumente.

Was den Film „Moving Forward“ selbst angeht, so ist nicht nur der erste Teil „Die menschliche Natur“ sehenswert. Die daran anschließenden Abschnitte thematisieren die strukturelle Ineffizienz und „Krankheit“ der Gesellschaft, die auf Markt, Staat und Kapital beruht. Am Ende wird eine mögliche Alternative dazu skizziert.

Stefan Meretz, Franz Nahrada, Tomasz Konicz und ich haben die Schwächen und Defizite des Films kritisiert. Dennoch hat er ein großes Verdienst: Er analysiert mit nüchternem und mutigem Blick die krankmachende Wirkung der Marktwirtschaft. Dabei ist er zugleich gut verständlich gemacht und gratis im Netz erhältlich. Mit 6,4 Millionen Sichtungen (Stand Mai 2011) auf youtube ist der Streifen der bisher größte nicht-kommerzielle Erfolg der Filmgeschichte.

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