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Nicht Armut sondern Ungleichheit ist hierzulande das Problem

von Andreas Exner

Im Standard hat sich eine interessante Debatte zur Armutsfrage entsponnen. In einem Kommentar vom 23. November behauptete Rolf Gleißner, der stellvertretende Leiter der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer, Armut würde durch statistische Kniffe „on demand“ vermehrt. Armut im Sinn absoluten Mangels gehe in Österreich jedoch zurück. Dem hat nun Konrad Pesendorfer, Fachstatistischer Generaldirektor der Statistik Austria, widersprochen. Pesendorfer zeigt, dass Gleißner die Methode der Armutsmessung nicht versteht und offenbar auch nicht mit den geläufigen Armutsindikatoren vertraut ist.

Von dieser wirtschaftlich interessierten Ignoranz des Wirtschaftskämmerers abgesehen zeigt Gleißners Argumentation jedoch auch: immer noch wird die Problematik sozialer Ungleichheit als eine Armutsproblematik missdeutet. Das ist aus zweierlei Gründen falsch. Armut im Sinne absoluten Mangels, da hat Gleißner recht, ist in Ländern wie Österreich nicht das Hauptproblem. Aber auch Armut in einem erweiterten Sinne relativen Mangels ist nicht das Hauptproblem, sofern man unter den Armen oder den von Armut gefährdeten Menschen eine klar abgrenzbare Gruppe versteht, die durch ihre Abweichung vom Durchschnitt zum Beispiel des Einkommens definiert wird.

Selbstverständlich hat Konrad Pesendorfer Recht, wenn er festhält: „Armut ist in reichen Staaten vermeidbar. Aber nur, wenn man auch die Fakten genau betrachtet, können Entscheidungen richtig getroffen werden.“ Allerdings fragt sich, warum eigentlich bloß Armut vermieden werden soll, während das viel umfassendere und gewichtigere Problem der sozialen Ungleichheit außen vor bleibt.

Die neuere Gesundheitsforschung ergibt: Es ist nicht Armut im Sinn eines absoluten oder relativen materiellen Mangels, die Krankheiten verursacht und die Lebenserwartung verkürzt. Bei fast allen Indikatoren des Gesundheitszustands – ebenso bei der Lebenserwartung – gibt es vielmehr einen klaren sozialen Gradienten, der sich von der Top-Schichte bis zu den Armen durchzieht und alle betrifft, sogar die Reichen. In Ländern mit größerer sozialer Gleichheit haben auch sie eine im Schnitt längere Lebenserwartung als in ungleicheren Ländern.

Ein Beispiel unter vielen anderen ist die groß angelegte so genannte Whitehall-Studie an britischen Staatsangestellten. Die Grafik zeigt die Verteilung des Sterberisikos in verschiedenen Altersgruppen je nach sozialer Position, von den Behördenleitern (Administrative) über die Fachkräfte und leitenden Angestellten (Professionals/Executives), die Büroangestellten (Clericals) bis zu den Sekretariats-MitarbeiterInnen. Man sieht: das Sterberisiko steigt fast gleichmäßig je niedriger die soziale Hierarchiestufe – den Verwendungsgruppen entsprechend. Der Unterschied ist gewaltig. Die Administratives haben zwischen 40 und 64 eine nur halb so große Sterbewahrscheinlichkeit wie der Durchschnitt, während Sekretariats-MitarbeiterInnen die doppelte aufweisen. Sie sterben also vier Mal eher als die Top-Angestellten.

Grafik: Prozentanteil von Todesfällen von Angestellten im britischen Staatsdienst in drei Altersgruppen, gereiht nach Position in der sozialen Hierarchie: Administrative (Behördenleiter), Professional/Executive (leitende Angestellte und Fachkräfte), Clerical (Büroangestellte), Other (Beschäftigte im Sekretariat). Daten nach Marmot/Shipley (1996).

Dies ist die tödliche Wirkung sozialer Ungleichheit. Sie hat mit materiellem oder finanziellem Mangel nichts zu tun. Keiner der britischen Staatsangestellten leidet unter Armut in diesem Sinne. Schon gar nicht kann davon bei leitenden Angestellten und Fachkräften die Rede sein.

Ungleichheit schädigt den Menschen vor allem über den chronischen Stress der Unterordnung, die fehlende Autonomie. Je niedriger die Rangstufe, desto geringer ist der Entscheidungsspielraum. Das macht krank. Eine Vielzahl an Studien zeigt, dass die soziale Ungleichheit einen deutlich größeren Anteil des Krankheitsrisikos und der Sterbewahrscheinlichkeit erklärt als das individuelle Gesundheitsverhalten. Und auch dies folgt noch einem sozialen Gradienten, unterliegt also keineswegs dem individuellen Willen, wie viele glauben.

Die Armutsdebatte ist daher bestenfalls ein Anfang. Im schlechten Fall lenkt sie vom eigentlichen Problem ab: von der sozialen Ungleichheit. Würden alle Einkommen steigen, die Ungleichheit jedoch nicht abgebaut, so würde ein positiver Gesundheitseffekt ausbleiben.

Auch das sei der Wirtschaftskammer ins Stammbuch geschrieben.

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Die Armut macht den Menschen krank

Kraßnitzer, Michael: Die Armut macht den Menschen krank. Die Furche, 3. 2. 2011, 6.

„Kranke Menschen werden ärmer, arme Menschen werden kränker“, bekräftigt Gesundheitsminister Stöger. „Armut zu bekämpfen ist daher auch aus gesundheitspolitischer Perspektive wichtig“, betonte der Minister vorige Woche bei einer Diskussionsveranstaltung im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien. Weiterlesen

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